Compassion fatigue – Die Mitleidserschöpfung

„Burn-out“ ist auch eine Modediagnose

Die Diagnose „Burn-out“ steht in der Kritik. Zehn Prozent aller bundesweiten Krankschreibungen werden mit ihr begründet. Experten unterscheiden zwischen normalen Lebenskrisen und behandlungsbedürftigen Depressionen.

Burn-Out ist auch eine Modediagnose

Nun soll es die „Taskforce Burn-out“ richten. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat sie gegründet. Die Gruppe soll klären, um was es bei der Diagnose Ausgebranntsein überhaupt geht. „Wir wollen Kriterien erarbeiten, was genau hinter dem Burn-out-Syndrom steckt“, sagt Thomas Nesseler, Sprecher der DGPPN. Bislang fehle dafür nämlich eine wissenschaftliche Definition. Psychiatrische Diagnosen seien immer Konstrukte, erklärt Nesseler: „Einen Blutdruck können Sie messen, bei einem seelischen Leid ist das schwieriger. Deswegen müssen jetzt Kriterien her.“

Verantwortlich für jede zehnte Krankschreibung

Eine Diagnose ohne Definition? Und das bei einer Krankheit, die laut dem „Fehlzeiten-Report 2011“ der AOK inzwischen für fast zehn Prozent der Krankschreibungen in Deutschland verantwortlich ist? Die als Diagnose so gut in die Zeit zu passen scheint, dass sie schon als Metapher in die Alltagssprache gewandert ist?

Tatsächlich wurde das Burn-out-Syndrom in den vergangenen Monaten zur Volkskrankheit aufgeblasen. Das Modewort las man gefühlt monatlich auf einem Zeitschriftentitel, Burn-out-Ratgeber füllen Regale in den Buchhandlungen, Privatkliniken spezialisierten sich auf ausgebrannte Manager und andere Erschöpfte des Alltags.

Und jetzt, auf dem Höhepunkt der Burn-out-Welle, erklärt die Gesellschaft für Psychiatrie, sie wisse nicht, was Ausgebranntsein ist? „Das Thema wird zurzeit breit diskutiert“, sagt DGPPN-Sprecher Nesseler. „Da müssen wir als Fachgesellschaft reagieren.“

Ruft ein Verband eine Einsatztruppe ins Leben, ist das ein Zeichen dafür, dass etwas im Argen liegt. Im Fall des Burn-out-Syndroms ist die Taskforce so etwas wie eine Notbremse. Der Versuch, ein sowieso schon amorphes Krankheitsbild aus den Fängen der Medien in die Medizin zu retten, bevor es komplett zerlaufen ist.

Denn nach seiner steilen Medienkarriere beginnt jetzt der Abstieg des Begriffs Burn-out – zumindest mehren sich dafür die Anzeichen. So veröffentlichte das renommierte „Deutsche Ärzteblatt“ gerade einen Forschungsbericht des Ulmer Psychiatrie-Professors Wolfang Kaschka unter dem Titel „Modediagnose Burn-out“. „Noch jemand ohne Burn-out?“, fragte die Wochenzeitung „Die Zeit“ Anfang Dezember auf ihrer Titelseite.

„Das Burn-out-Syndrom bildet die Grundlage zahlreicher Arbeitsunfähigkeitsversicherungen und ist damit ein wichtiger gesundheitsökonomischer Faktor“, stellt Wolfgang Kaschka in seiner Streitschrift fürs „Ärzteblatt“ klar. „Hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Begründung, Klassifikation, Diagnostik und Therapie besteht allerdings erheblicher Forschungsbedarf.“ Das Phänomen Burn-out, so darf man den Ärztlichen Direktor der Ulmer Klinik für Psychiatrie verstehen, gibt es eigentlich gar nicht. Sondern nur verschiedene krankhafte und nichtpathologische Phänomene, die alle unter einem Begriff versammelt werden.

Diese Verschleierungstaktik halten Experten wie Manfred Lütz, Psychiater und Chefarzt des Kölner Alexianerkrankenhauses, für gefährlich (siehe Interview unten). „Durch den schwammigen Begriff können echte Depressionen verschleiert werden“, sagt Lütz. „Und es werden viele Gesunde behandelt, die nicht behandlungsbedürftig sind.“

Klar ist: Eine allgemeingültige Definition von Burn-out gibt es derzeit nicht. In der ICD-10, einem Verzeichnis der Weltgesundheitsorganisation über alle Erkrankungen, kommt das Erschöpfungssyndrom als eigenständige Krankheit überhaupt nicht vor. Hier wird es in der Restkategorie „Z 73“ geführt: „Probleme, verbunden mit Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung“.

„Obwohl – oder gerade weil – es sich nicht eindeutig einordnen lässt, ist Burn-out so etwas wie eine Modekrankheit geworden“, sagt auch Andreas Marlovits, Professor für Sportpsychologie an der Business School in Potsdam. Erklären lasse sich die steile Karriere der Diagnose – die so übrigens nur in Deutschland gestellt wird – aus dem Begriff „Burn-out“, meint Marlovits. „In dem Wort steckt eine unglaubliche Attraktivität. Wer ausgebrannt ist, muss mal für etwas gebrannt haben, also leidenschaftlich bei der Sache gewesen sein.“

Diagnosen wie Depression oder das Eingeständnis „Ich kann nicht mehr, ich brauche Urlaub“ seien für ehrgeizige Menschen weit weniger akzeptabel. Von einer „Modediagnose“ möchte Thomas Nesseler von der DGPPN trotzdem nicht sprechen. „Nein, ich denke schon, dass hinter einem Burn-out oft massive Probleme stecken. Deswegen muss man das auch ernst nehmen.“

Oft verbergen sich tatsächlich schwere Erkrankungen hinter einem Gefühl der Erschöpfung. 53 Prozent der Arbeitnehmer mit der Diagnose Burn-out haben etwa eine behandlungsbedürftige Depression, so das Ergebnis einer finnischen Untersuchung von 2005.

Zu großen Teilen ist die aktuelle Ausbreitung des Burn-out-Syndroms aber eben auch eine „gefühlte Epidemie“, wie Markus Pawelzik, Leiter der EOS-Klinik für Psychotherapie in Münster, feststellt:

Eine gesellschaftliche Stimmung – hier das Gefühl der Überforderung durch Perfektionismus – bricht sich Bahn in einer Krankheit „und wird an den Arzt oder Psychotherapeuten delegiert“.

Leben ändern bei Lebenskrisen

Eine Abschaffung des Burn-out-Begriffs könnte helfen, die unterschiedlichen Phänomene richtig zu unterscheiden – und so besser zu behandeln, meint der Psychiater Manfred Lütz. Bei normalen Lebenskrisen etwa helfe es oft schon, den Lebensstil zu ändern: „Menschen, die sehr ehrgeizig sind, immer mehr wollen und sich deshalb erschöpft fühlen, sollten mal überlegen, worin der Sinn des Lebens für sie besteht – dazu brauchen sie keinen Psycho-Experten.“

Wer aber morgens schon antriebslos ist und sich in Fluchtgedanken hineinsteigert, sollte sich, so der Psychiater, unbedingt professionelle Hilfe holen. Denn eine Depression ist etwas anderes als eine Befindlichkeitsstörung – obwohl manchmal beides gefährlich gleich heißt.

Siehe auch: Das Leiden ohne Definition

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