Kommentar zum BAG-Urteil vom 14.11. und den folgenden Pressereaktionen
Dieses Urteil trifft Millionen Beschäftigte (Focus), Wie kranke Mitarbeiter die Wirtschaft treffen (Financial Times Deutschland), Attest schon am ersten Tag! Grundsatzurteil lässt Arbeitgebern freie Hand (Bild) titelten Presseorgane am Dienstag, den 14.11. und in den Folgetagen, auch die Tagesschau und andere Nachrichtensendungen berichteten ausführlich. Was war passiert? Die Fakten sind schnell erzählt:
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 14.11.2012 entschieden (5 AZR 886/11) , dass der Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 Satz 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) berechtigt ist, vom Arbeitnehmer die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtlicher Dauer schon vom ersten Tag der Erkrankung an zu verlangen.
Hintergrund war die Klage einer Redakteurin des Westdeutschen Rundfunks, der ein Dienstreiseantrag abschlägig beschieden worden war und die sich am entsprechenden Tag krank gemeldet hatte. In der Folge hatte der Arbeitgeber die Beschäftigte aufgefordert, zukünftig schon am ersten Tag der Krankmeldung einen Arzt aufzusuchen und ein entsprechendes Attest vorzulegen. Sie wiederum hatte auf dem Klageweg ersucht, den Widerruf dieser Weisung zu erwirken und dabei geltend gemacht, dass das Verlangen des Arbeitgebers auf Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits für den ersten Tag einer sachlichen Rechtfertigung bedürfe.
Fehlzeiten und die Jagd auf Kranke
Auffällig war, wie breit, in welchem Ausmaß und in welcher Form über dieses BAG-Urteil berichtet wurde. Gewöhnlich werden solche juristischen Debatten in den einschlägigen Fachorganen und interessierten Kreisen geführt. Nun, es war auch weniger eine juristische Auseinandersetzung, als das Anwerfen einer Propagandamaschine, Lesart: berechtigte Jagd auf Blaumacher höchstinstanzlich bestätigt. Die Financial Times Deutschland steht hierfür exemplarisch, sie beginnt ihren Artikel zum BAG-Urteil folgendermaßen: Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Krankmeldung erleichtert die Unternehmen: Sie wissen künftig schneller, wann sie mit einem Mitarbeiter wieder rechnen können – und können „Krankfeierer“ disziplinieren. Der Krankenstand ist für die Unternehmen ein extrem teures Problem.
Einübung in die betriebliche Praxis
Lässt man alle Demagogie und Nebenschauplätze beiseite, hat das BAG nur den Wortlaut des Entgeltfortzahlungsgesetzes bestätigt. Dort steht in § 5 zu den Anzeige- und Nachweispflichten des Arbeitnehmers:
Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen. Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen.
Diese beiden – sich vermeintlich widersprechenden – Sätze definieren nicht die Regel und die Ausnahme, sind keine juristischen Kategorien für den Gegensatz zwischen konformen Beschäftigten und sog. schwarzen Schafen. Sie haben ihren Hintergrund darin, dass der Gesetzgeber die Nachweispflicht einer Arbeitsunfähigkeit und die Kosteneinsparung bei Bagatellerkrankungen als gleichwertige wesentliche Anliegen betrachtete (siehe auch BAG-Urteil vom 01.10.1997 – 5 AZR 726/96).
Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und Arbeitsverträge können darüber hinaus vom Entgeltfortzahlungsgesetz abweichende Regelungen enthalten, die dann Wirkung entfalten, wenn sie für den/die Arbeitnehmerin günstiger sind (Günstigkeitsprinzip).
Man könnte einwenden, dass das BAG ausdrücklich erwähnt hat, dass eine tarifliche Regelung dem nur entgegen steht, wenn sie das Recht des Arbeitgebers aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG – also der früheren Vorlage einer AU – ausdrücklich ausschließt.
Diese Auslegung würde aber unterstellen, dass die Formulierung im Tarifvertrag nur dazu bestimmt ist, die gesetzliche Regelung anzuwenden und die unvollständige Übernahme des Gesetzestextes keine eigene Wirkung entfaltet.
Zur Übertragung dieser Interpretation auf arbeitsvertragliche Regelungen finden sich im Kommentar BAG: Attest schon ab dem ersten Krankheitstag – Arbeitgeber im Vorteil? im Handelsblatt Rechtsboard ein paar interessante Anmerkungen: Obwohl sich die Gerichte nicht zur Problematik einer abweichenden vertraglichen Regelung geäußert haben, muss man davon ausgehen, dass ähnliche Grundsätze auch für eine arbeitsvertragliche Regelung gelten. Die Auslegung von Arbeitsverträgen erfolgt aber nach etwas abgewandelten Grundsätzen als diejenige von Tarifverträgen und dient in erster Linie dazu, dem wahren Willen der Parteien zu entsprechen. Womöglich kann dies im Einzelfall zu günstigeren Ergebnissen für einen Arbeitnehmer führen.
Was in den Berichten und Kommentaren zum vorliegenden BAG-Urteil zudem schlichtweg unterschlagen wird, ist der Sachverhalt, dass die nach § 5 Abs.1 Satz 3 Entgeltfortzahlungsgesetz zulässige Anweisung des Arbeitgebers, die AU vor Ablauf des dritten Kalendertages nachzuweisen, eine Frage der betrieblichen Ordnung im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetzes betrifft – und damit ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats besteht -, wenn es sich um eine generelle und allgemeine Regelung handelt (siehe dazu auch: BAG 1 ABR 3/99). Grundsätze zum Einzelfall stellen eine solche allgemeine Regelung dar.
Zur Anweisung im Einzelfall wiederum schreibt die Legal Tribune Online in ihrem Artikel zum BAG-Urteil berechtigterweise: Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird belastet, da sich die Weisung gegen einzelne Arbeitnehmer richtet und dem Arbeitnehmer unausgesprochen unterstellt wird, seine Fehlzeiten lägen nicht immer in Krankheit begründet.
Schlussendlich bleibt es aber eine offene Frage, ob sich in dieser Sache die betriebliche Praxis (schleichend) zu ungunsten der Beschäftigten verschiebt, oder ob diese sich erfolgreich – politisch, individual- und/oder kollektivrechtlich – gegen diese Entwicklungen zur Wehr setzen.
Siehe auch:Personalpolitik – certificado de incapacidad laboral