Beschäftigte der persönlichen Assistenz: Warten auf den Inflationsausgleich (Peter Nowak in der taz vom 19.06.2024)
Die Tarifeinigung von Dezember wird nicht umgesetzt, kritisieren Träger der persönlichen Assistenz in Berlin. Am Mittwoch protestieren sie in Kreuzberg.
BERLIN taz | Beschäftigte der persönlichen Assistenz pochen in Berlin auf die zügige Umsetzung eines Tarifvertrags. Die Einrichtungen „Ambulante Dienste“ und „Neue Lebenswege“ rufen für Mittwochnachmittag zu Protesten vor dem Sitz der Krankenkasse AOK Nordost in Berlin-Kreuzberg auf.
Im Dezember 2023 hat die gemeinsame Tarifkommission der Gewerkschaft Verdi mit den Geschäftsführungen von Ambulante Dienste und Neue Lebenswege die Anpassung des Tarifvertrags ausgehandelt. Die Änderungen sehen unter anderem eine Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro vor.
Passiert ist seitdem wenig, kritisiert der zuständige Verdi-Sekretär Ivo Garbe: „Der Senat und insbesondere die Pflegekassen verzögern und sabotieren die Finanzierung. Verhandlungstermine wurden abgesagt, wichtige Fortschritte wie unsere Betriebsrente werden infrage gestellt.“ Der Gewerkschafter gibt sich trotzdem optimistisch, denn die Beschäftigten von Ambulante Dienste sowie Neue Lebenswege seien entschlossen, gegen die Verzögerungen zu kämpfen.
Der Verein Ambulante Dienste und Neue Lebenswege, eine GmbH, bieten persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen an. Die Einrichtungen sind im Zuge der Auseinandersetzung um ein selbstbestimmtes Leben von behinderten Menschen entstanden, die sich dagegen wehrten, gegen ihren Willen in Heimen leben zu müssen. Die Assistent*innen ermöglichen ihnen ein selbstbestimmtes Leben in einer Umgebung ihrer Wahl.
Kampf um Anerkennung
Dabei handelt es sich um Lohnarbeit, die lange nicht genügend wertgeschätzt wurde. Beschäftigte der persönlichen Assistenz kämpfen seit mehr als 15 Jahren für eine Anerkennung ihrer Arbeit, mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Inzwischen ist in den beiden Einrichtungen die gewerkschaftliche Organisierung hoch.
Für Aufmerksamkeit sorgte etwa der „Scheiß-Streik“ 2009. Beschäftigte, die in der persönlichen Assistenz für Behinderte oder in der häuslichen Pflege tätig waren, befüllten Kotröhrchen und verschickten sie an Einrichtungen, die für Lohndumping und Zeitdruck in der Branche verantwortlich gemacht wurden.
Seit März 2020 ist der bundesweit erste Tarifvertrag für Assistenzbeschäftigte in Berlin in Kraft. „Das hat den Beschäftigten Mut gemacht“, betont Garbe. „Die Mitarbeiter*innen sind motiviert“, bestätigt auch Michael Teumer von Ambulante Dienste gegenüber der taz. Teumer ist zuversichtlich, dass auch Assistenznehmer*innen sich am Mittwoch an der Kundgebung beteiligen.
Streit um Pflege-Finanzierung: Menschen mit Behinderung protestieren in Berlin für Assistenten-Gehälter
Ein Tarifvertrag regelt die Gehälter von Alltagshelfern für Behinderte. Doch um die Übernahme der Kostensteigerung gibt es Streit. Vor der AOK-Geschäftsstelle protestieren Betroffene. (Tagesspiegel, 19.06.2024)
Im Finanzierungsstreit um persönliche Assistenten für Menschen mit Behinderung haben Betroffene in Berlin protestiert. Vor der Geschäftsstelle der Krankenkasse AOK Nordost in Kreuzberg versammelten sich am Mittwochnachmittag Menschen mit Behinderung und ihre Assistenten.
Hintergrund ist ein Streit um die Refinanzierung von Tarifverträgen durch die AOK und den Senat, teilte Verdi mit. Die Gewerkschaft und die beiden Assistenzdienst-Anbieter „ambulante dienste“ und „Neue Lebenswege“ hätten im Dezember 2023 einen Vertrag abgeschlossen, der die Lohnerhöhungen des Tarifvertrages der Länder nachvollziehe.
Senat und Pflegekassen weigerten sich jedoch, die Kostensteigerungen zu übernehmen, teilte Verdi mit: Damit gefährdeten sie die Unterstützungsleistungen von mehr als 200 Männern und Frauen mit Behinderung sowie die Gehälter von mehr als 1000 persönlichen Assistenten.
In einem Protestbrief rufe man die AOK-Verhandlungsführer deshalb dazu auf, an einer Lösung zu arbeiten, hieß es von Verdi. Zehn Prozent der Tariflöhne zahlen die Kassen, für die federführend die große AOK verhandelt, 90 Prozent hingegen das Land. (Tsp)
Persönliche Assistenz: Tarifvertrag ins Nichts
Beschäftigte der persönlichen Assistenz demonstrieren vor der Zentrale der AOK Nordost in Berlin (Peter Nowak im ND, 20.06.2024)
»Nicht mit uns«, die Parole war am Mittwochnachmittag schon von Weitem zu hören. Skandiert wurde sie von etwa 100 Menschen, die sich vor der Zentrale der Krankenkasse AOK Nordost in Berlin-Kreuzberg versammelt hatten. Beschäftigte der Einrichtungen Ambulante Dienste und Neue Lebenswege forderten eine sofortige Umsetzung des schon abgeschlossenen Tarifvertrags.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hatte mit den beiden Anbietern für persönliche Assistenzdienste bereits im Dezember 2023 einen Tarifvertrag geschlossen, der vorsieht, die Lohnerhöhungen adäquat zum Tarifvertrag der Länder (TV-L) anzuwenden. Doch mehr als ein halbes Jahr später ist er noch immer nicht umgesetzt. Ihre Forderungen richten persönliche Assistent*innen wie Assistenznehmer*innen an die AOK Nordost, die stellvertretend für die Pflegekassen und den Senat den Tarifvertrag ausgehandelt hatte.
»Der Berliner Senat und die Pflegekassen weigern sich, in den Refinanzierungsverhandlungen die Kostensteigerungen zu übernehmen«, moniert der zuständige Verdi-Sekretär Ivo Garbe gegenüber »nd«. Auch den eigentlich vereinbarten Inflationsausgleich haben die Beschäftigten noch immer nicht bekommen.
An der Demonstration nehmen gut ein Dutzend Menschen im Rollstuhl teil. Die Geschichte der Ambulanten Dienste ist eng mit der Behindertenbewegung verbunden. Betroffene kämpften dagegen, dass sie gegen ihren Willen in Heime abgeschoben werden. Die persönlichen Assistent*innen ermöglichen ihnen ein selbstbestimmtes Leben in einer Umgebung ihrer Wahl. Deshalb unterstützen sie den Kampf der Beschäftigten nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen.
Refinanzierung muss her!
Seit einem halben Jahr warten die Beschäftigten Berliner Assistenzbetriebe auf ihre dringend benötigten Lohnsteigerungen. Protest bei Kostenträgern.(verdi.de/mein-arbeitsplatz/behindertenhilfe/ – 25.06.2024)
Schon im Dezember 2023 haben ver.di und die Berliner Assistenzbetriebe Neue Lebenswege GmbH und ambulante Dienste e.V. einen Tarifvertrag abgeschlossen, mit dem die Entwicklung des Länder-Tarifvertrags nachvollzogen wird. Doch die Verhandlungen mit den Kostenträgern über die Refinanzierung der Vereinbarung ziehen sich hin, den Arbeitgebern liegt noch immer kein auskömmliches Angebot vor. Deshalb sind am 19. Juni 2024 rund 100 Persönliche Assistent*innen und Menschen mit Behinderungen – die rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen sind – gemeinsam auf die Straße gegangen.
Lautstark ging es zu am Mittwoch vor der Geschäftsstelle der AOK-Nordost in Berlin, die die Verhandlungen für die Kostenträger führt. »Die Kundgebung ist ein starkes Zeichen und eine klare Botschaft: Die Kolleg*innen in der Persönlichen Assistenz wollen nicht schlechter gestellt werden – und sind bereit, sich für ihre Belange einzusetzen«, erklärt Michael Teumer, der bei ambulante Dienste e.V. arbeitet und sich in der gemeinsamen ver.di-Tarifkommission engagiert. Diese hatte vor einem halben Jahr mit beiden Unternehmen vereinbart, die Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro sowie die betriebliche Altersvorsorge aus dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) zu übernehmen. Doch die Verhandlungen zur Refinanzierung stocken seither.
»Tarifverträge sind zu finanzieren, das steht uns zu«, sagt Sophie Schmidt von der Neue Lebenswege GmbH. »Die Verhandlungen werden jedoch verschleppt, Termine werden abgesagt, Absprachen nicht eingehalten – so geht es nicht weiter.« Solche Probleme habe es bei dem erstmals 2020 geschlossenen Tarifvertrag nicht gegeben. »Dass wir damals den Tarifvertrag und darin die Entgeltgruppe 5 durchgesetzt haben, war eine wichtige Aufwertung unserer Arbeit«, betont die Persönliche Assistentin. Senat und Pflegekassen trugen dies ebenso mit wie die Übernahme der Verbesserungen aus dem TV-L während der Corona-Pandemie. Doch plötzlich ist alles anders. Die im Tarifvertrag vereinbarte betriebliche Altersvorsorge soll nicht bezahlt werden. Und auf die Einmalzahlung zur Abmilderung der Inflation warten die insgesamt gut 1.000 Beschäftigten nun schon seit Monaten.
»Alles wird teurer«, gibt Michael Teumer zu bedenken. »In der Persönlichen Assistenz wird ohnehin niemand reich – wollen wir auch nicht. Aber auch wir müssen von unserer Arbeit leben können.« Das gelte auch fürs Alter. Seine Rentenprognose liege bei etwa 1.000 Euro, berichtet der Persönliche Assistent. »Da ist jeder zusätzliche Euro wichtig. Deshalb brauchen wir eine betriebliche Altersversorgung wie im öffentlichen Dienst, um Altersarmut zu verhindern.«
Die Beschäftigten der Assistenzbetriebe leisteten herausfordernde und wertvolle Arbeit, erklärt Sophie Schmidt, die ebenfalls in der ver.di-Tarifkommission aktiv ist. »Ohne uns müssten die schwer behinderten Menschen im Heim leben. Wir ermöglichen ihnen so viel Selbstbestimmung wie es geht. Das kann und muss Berlin, das können und müssen auch die Pflegekassen sich leisten.« Der Senat müsse sich endlich klar für die Tarifautonomie und die Gleichbehandlung der Beschäftigten freier Träger positionieren, fordert die Gewerkschafterin. »Ich hoffe, dass unser Protest wahrgenommen wird und zu Bewegung führt. Sonst stehen wir bald wieder vor der Tür.«
Ein Bericht von ver.di-TV zur Protestaktion kann hier angeschaut werden.