Militanz im weißen Kittel

Die Streiks der polnischen Krankenschwestern

Veranstaltung:

24. September 2012, 19:00 Uhr

Robert-Havemann-Saal,
Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin

Aus der Einladung: Die Streiks der polnischen Krankenschwestern haben in Polen und in der gewerkschaftlichen Linken Europas Furore gemacht. In der breiten Öffentlichkeit der sozialen Bewegungen Europas sind sie jedoch weitgehend unbekannt geblieben. Die Belagerung des polnischen Parlamentes ohne Unterstützung der großen Gewerkschaftsbünde hat ihnen große Sympathien in der Bevölkerung und die Solidarität des kämpferischen Gewerkschaftsflügels verschafft – und sie in Polen mit an die Spitze der sozialen Kämpfe in den letzten Jahren gestellt. Welchen Stellenwert haben diese Kämpfe für die soziale Emanzipationsbewegung der Gegenwart? Sind sie nur Ausdruck einer besonders verzweifelten Lage oder signalisieren sie das Auftreten neuer kämpferischer Subjekte jenseits von Industrieproletariat und neuer, „digitalisierter“ Mittelschicht?

Gezeigt wird der polnische Film „Das Weiße Städtchen“ (OmU), anschließend Diskussion mit Vertreterinnen der polnischen Gewerkschaft der Krankenschwestern OZZ PiP und Norbert Kollenda, Attac Berlin / Moderation: Bernd Gehrke, AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West

AK geschichte sozialer bewegungen ostwest
Siehe auch: Film zu Streiks polnischer Krankenschwestern

Dazu zwei Berichte über aktuelle Klassenauseinandersetzungen in Polen im Sommer 2007 aus der Wildcat 79, zum Zeltdorf der Krankenschwestern in Auszügen:

Das Zeltdorf der Krankenschwestern

Vier Wochen lang zelteten in diesem Sommer mehrere tausend Krankenschwestern aus den staatlichen Krankenhäusern vor der Staatskanzlei in Warschau1. Ihr Protest sollte eine Erhöhung der kümmerlichen Gehälter von monatlich durchschnittlich 1200 bis 1300 Zloty (ca. 320 Euro) durchsetzen2. Auslöser der Zeltaktion selbst war ein brutaler Polizeieinsatz gegen Teilnehmerinnen einer großen Krankenschwesterndemonstration am 19. Juni. Daraufhin besetzten mehrere Krankenschwestern aus der Führung der Gewerkschaft OZZPiP3 eine Woche lang ein Zimmer in der Staatskanzlei, um ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten zu erzwingen, während draußen das »weiße Städtchen« schnell auf etwa 150 Zelte anwuchs, in denen sich durchschnittlich 300 BewohnerInnen über die Wochen hinweg ablösten. Die meisten von ihnen waren OZZPiP-Aktivistinnen, die an ihren freien Tagen kamen, für die Aktion Urlaub nahmen oder sich freistellen ließen. Als der Ministerpräsident am 15. Juli in den Urlaub abreiste, brachen die Schwestern das Zeltdorf ohne konkrete Ergebnisse ab.

Alle lieben die Krankenschwestern …

Die »Öffentlichkeit« nahm die Proteste mit großer Sympathie auf. Umfragen zufolge unterstützte eine große Mehrheit im Land die Aktion und fand die Lohnforderungen richtig. Viele Leute kamen spontan vorbei und brachten Essen, Decken oder Schlafsäcke. Den Leuten imponierte die Entschlossenheit und Zuversicht der Frauen. Viele schienen geradezu auf diese Bewegung gewartet zu haben, die auf den Punkt brachte, was einen Großteil der Gesellschaft bewegt: Polen modernisiert sich und verwandelt sich in eine verlängerte Werkbank der EU, aber die Löhne sind niedrig geblieben4. Auch den Zusammenhang zur aktuellen Auswanderungsbewegung stellten die Krankenschwestern auf ihren Transparenten her: »Bleibt gesund, wir wandern aus!« oder »Wir wollen arbeiten, nicht emigrieren«.

Unterstützung kam nicht nur von so ziemlich allen linken Gruppen und Grüppchen5, sondern – zumindest verbal – auch von der neoliberalen Opposition, der alles recht ist, was die klerikal-rechte Regierung in Schwierigkeiten bringt. PO-Chef6 Tusk verurteilte die Polizeiübergriffe ebenso wie Warschaus PO-Bürgermeisterin, die ehemalige Notenbankchefin Gronkiewicz-Waltz. Die Stars und Sternchen der Kulturszene gaben Konzerte und/oder verbrachten eine Nacht im Zelt.

Obwohl andere Gewerkschaften wie die linke Sierpien 80 versuchten, ihren Fuß in die Aktion zu bekommen, blieb ihr Einfluss auf die Teilnahme an den Plena im Zeltdorf beschränkt, wo praktische Fragen wie der Schutz vor Angriffen diskutiert wurden. Politisch stand das Monopol der OZZPiP, die sich ihre Verbündeten bei den Neoliberalen sucht – als Verhandlerin beauftragte sie z.B. die Vorsitzende des privaten Arbeitgeberverbandes Bochniarz – nicht in Frage.

… aber worum ging es eigentlich genau?

Trotz aller öffentlichen Sympathie für den Krankenschwesterprotest wussten die wenigsten, was eigentlich im Detail los war. Viele erklärten sich z.B. solidarisch mit dem »Krankenschwesternstreik«, obwohl die Krankenschwestern gar nicht streikten.7 Dabei hat es in diesem Jahr in Polen an Streiks nicht gemangelt, z.B. gab es Warnstreiks für Lohnerhöhungen bei Fiat in Tychy und Bielsko-Biala, bei Opel in Gliwice oder wiederholte wilde Streiks beim Maschinenbauer Cegielski in Poznan. Die Busfahrer in Kielce …

Genauso wenig wie die Tatsache, dass nicht gestreikt wurde, wurden die konkreten Forderungen wahrgenommen. Irgendwie fordern die 30 Prozent mehr, stimmt’s? Passt schon! Tatsächlich hat die OZZPiP keine direkte Lohnforderung aufgestellt, sondern fordert die Verlängerung der Wirkung eines Gesetzes über die Erhöhung der Zuschüsse zu Personalkosten von 2006. Mit diesem Gesetz wurden nach einem Ärztestreik Anfang 2006 zusätzliche Subventionen für den Nationalen Gesundheitsfonds NFZ (vergleichbar mit einer Art allgemeingültiger AOK) bereitgestellt, um für den Zeitraum Juli 2006 bis September 2007 die Ausgaben für Personal um 30 Prozent erhöhen zu können.

Mit ähnlichen Finanzspritzen werden die klammen Krankenhäuser8 regelmäßig finanziell flüssig gemacht. Das staatliche polnische Gesundheitssystem ist chronisch unterfinanziert (in Polen werden etwa vier Prozent vom BIP für das Gesundheitswesen ausgegeben – gegenüber zehn Prozent in Deutschland und 15 Prozent in den USA). Zwar sitzen in allen Parteien Lobbies, die das Gesundheitssystem kommerzialisieren wollen, um das potentielle Riesengeschäft mit der Gesundheit für Kliniken, Privatpraxen und die Pharma- und Geräteindustrie zu erschließen. Niemand weiß aber so richtig, wie das finanziert werden soll. Einerseits gelten zur Zeit weder eine Erhöhung der Krankenkassenbeiträge von 11,45 Prozent noch eine Belastung der Arbeitgeber (die bisher nichts bezahlen) als politisch durchsetzbar, andererseits würde eine Rückkehr zu einer offenen Finanzierung aus dem Staatshaushalt den Weg zur Kommerzialisierung erst recht versperren. So werden auf diesem Weg weiter kleine Schritte gemacht, wie die Zulassung privater Zusatzversicherungen (die haben in Polen bisher allerdings erst ein bis zwei Prozent der Leute) und die Schaffung von legalen Zusatzverdienstmöglichkeiten für die Krankenhausärzte (die bisher geschätzte ein bis drei Mrd. Euro im Jahr an Schmiergeldern von Patienten kassieren9). Gleichzeitig wird das bestehende System mit befristeten Ausnahmeregelungen halbwegs über Wasser gehalten.

Die OZZPiP will, dass das oben erwähnte Personalkostenerhöhungsgesetz über den 1. Oktober 2007 hinaus auf mehrere Jahre verlängert wird. Die Ausgaben für das Gesundheitssystem sollen – egal ob über Subventionen oder über Beitragsanhebungen – steigen, d.h. der zu verteilende Kuchen soll vergrößert und dabei die Lohnsumme systematisch Jahr für Jahr erhöht werden. Um 30 Prozent Lohnerhöhung geht es dabei allerdings weder in Zukunft noch in der Vergangenheit: Nach Angaben der OZZPiP kamen bei den 2006 vereinbarten 30 Prozent höheren Personalkosten durchschnittlich 17 Prozent Gehaltserhöhungen raus10.

Im Hintergrund: der Ärztestreik

Dass die 30-prozentige Erhöhung der Personalkosten letztes Jahr überhaupt ins Gesetz hineingeschrieben wurde, war einem Streik der Ärzte zu verdanken. Und auch 2007 kämpfen sie wieder für ihre Interessen. Sowohl von der Dauer als auch der Beteiligung her war der mit Abstand größte Streik dieses Jahres nämlich der seit dem 21. Mai laufende Ärztestreik. Die aktuellen Gehälter sind sehr unterschiedlich und liegen teilweise unter 1500 Zloty. Die Ärztegewerkschaft OZZL hat klare landesweite Forderungen aufgestellt: Fachärzte sollen das Dreifache des landesweiten statistischen Durchschnittseinkommens von ca. 2000 Zloty verdienen, die restlichen Ärzte das Doppelte. Damit reden die Ärzte nicht nur über klare Beträge, sondern markieren auch den von ihnen gewünschten sozialen Abstand. Die Entscheidung über Streiks ebenso wie Verhandlungen und Abschlüsse überließ die Gewerkschaft den Streikkomitees an den einzelnen Krankenhäusern. Insgesamt wurde nach Gewerkschaftsangaben an etwa 230 der 800 staatlichen Krankenhäuser in verschiedener Form gestreikt. Teilweise wurden geplante Operationen nicht mehr durchgeführt, teilweise nur noch Notdienste gefahren und teilweise die Abrechnung der Leistungen mit dem NFZ verweigert. Zusätzlich reichten etwa 3500 der 120 000 Ärzte des polnischen Gesundheitsdienstes ihre Kündigung ein. Inzwischen (Ende August) haben die meisten Krankenhäuser unterschiedliche Abschlüsse mit den Ärzten unterschrieben – und viele Ärzte ihre Kündigungen zurückgezogen. OZZL-Chef Bukiel – nebenbei Berater der ultra-neoliberalen Partei UPR – nutzte indessen die durch den Streik – und den Krankenschwesternprotest – geschaffene Öffentlichkeit, um ständig seine Hauptforderung zu wiederholen: Privatisierung des Gesundheitswesens!

Im Gegensatz zu den Krankenschwestern haben sich die Ärzte nicht beliebt gemacht. Am 21. August wurde aus Protest gegen den Ärztestreik sogar ein Krankenhaus in Radom zwei Tage lang von Patienten besetzt. Die Ärzte haben weder groß Rücksicht auf die Patienten genommen noch versucht, gemeinsame Sache mit den Krankenschwestern zu machen.

Die OZZPiP sieht sich ihrerseits als Vertretung der examinierten Schwestern und grenzt sich vom restlichen Klinikpersonal (Stationshilfen, Krankenwagenfahrer, Reinigungspersonal usw.) ab. Stattdessen hängt sie sich an die Ärzte und ihre Funktionäre dran, die häufige und gern gesehene Gäste im »weißen Städtchen« waren. Obwohl die Forderungen noch nicht erfüllt sind, sind Streiks auch weiterhin nicht geplant. Ende August hat die Gewerkschaft drei Tage lang mehrere Zelte vor dem Parlament aufgestellt und dort mit der Presse geredet. Außerdem verspricht sie eine Fortsetzung der Proteste im September.

Und die Krankenschwestern?

Auch wenn viele Krankenschwestern in Polen die Aktion gut fanden, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie dieselben Ansichten haben wie die Gewerkschaft: weder über die Ärzte noch über die Privatisierung des Gesundheitssystems. Aber sie haben sich nicht zu Wort gemeldet und keine eigenen Aktionen unternommen. Das »weiße Städtchen« wirkte viel lebendiger und selbstorganisierter als die üblichen deutschen Gewerkschaftstütenrituale, war letztlich allerdings eine von oben organisierte Aktion – auch wenn es für die beteiligten Schwestern sicher klasse war, mal aus dem Trott rauszukommen, Kolleginnen aus anderen Städten kennenzulernen und für ein paar Wochen in der Zuneigung »der Öffentlichkeit« zu baden.

Vielleicht machen die Krankenschwestern im Land auch einfach folgende Rechnung auf: Die 17 Prozent Lohnerhöhung, die sie 2006 im Schnitt herausbekommen haben, bedeuten in absoluten Zahlen (etwa 200 Zloty) und im Vergleich zu anderen Berufsgruppen zwar immer noch niedrige Löhne. Sie gehören aber zu den höchsten prozentualen Lohnsteigerungen der letzten Jahre in Polen. In der Autoindustrie haben sie weniger rausgeholt: Nachdem es dort jahrelang praktisch gar keine Lohnerhöhungen gab, sah sich die Gewerkschaft (Solidarnosc) in diesem Jahr gezwungen, mit Warnstreiks Flagge zu zeigen, und schloss dann schnell und niedrig ab: Bei Opel in Gliwice z.B. hatte Solidarnosc 500 Zloty mehr im Monat gefordert und unterschrieb dann eine Einmalzahlung von 2500 Zloty (also monatlich etwa 200) – bei einem Monatslohn von etwa 2300 Zloty netto. Bei der Post gab es nach einer spektakulären Welle von wilden Streiks Ende letzten Jahres magere 110 Zloty monatlich11. Die Krankenschwestern haben insofern gute Gründe, drauf zu spekulieren, dass die Gewerkschaft für sie wieder etwas rausholen wird. Indem sie sich an die Ärzte dranhängen, die den Ärger abkriegen, müssen sie es sich noch nicht mal moralisch mit der »Öffentlichkeit« und den Patienten verderben. Ob diese Spekulation aufgeht, wird sich zeigen.

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