Beschäftigte der Behindertenassistenz fordern Tarifverträge und angemessene Entlohnung. Bislang keine Zugeständnisse vom Senat
Mit einer Protestkundgebung vor der Senatsverwaltung für Soziales in Berlin-Kreuzberg machten Beschäftigte von Unternehmen der sogenannten persönlichen Behindertenassistenz und ihre Klienten am Mittwoch auf ihre unzumutbaren Arbeitsbedingungen aufmerksam.
Neben den Betriebsräten der beiden größten Anbieter ambulante dienste e.V. und Lebenswege gGmbH hatte auch die Gewerkschaft ver.di zu der Veranstaltung aufgerufen. In Berlin arbeiten über 1000 Beschäftigte in der persönlichen Assistenz und ermöglichen rund 200 Behinderten ein weitgehend selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben.
Billig_und_rechtlos (Junge Welt, 09.06.2011; von Rainer Balcerowiak)
Finanziert wird diese Leistung in den meisten Fällen vom Senat. Nach über zehn Jahren Lohnstagnation und massiven Entgeltabsenkungen für Neubeschäftigte wird seit Mai 2011 endlich der Vergütungsvertrag zwischen Kostenträgern und Anbietern von persönlicher Behindertenassistenz, der sogenannte Leistungskomplex 32, neu verhandelt. Am 31. Mai besetzte eine Delegation von Beschäftigten den Verhandlungsraum in der Senatsverwaltung, um Auskünfte über den Stand der Dinge zu erhalten. Das Ergebnis war ernüchternd: Entgegen früheren Versprechungen des Staatssekretär für Soziales, Rainer-Maria Fritsch (Linke), zumindest eine Angleichung der Entgelte an die entsprechenden tariflichen Eingruppierungen im öffentlichen Dienst einzuleiten, machte die Verhandlungsleiterin des Senats, Kirsten Dittmar, deutlich, daß es für eine signifikante Erhöhung der Vergütungssätze keinen Spielraum gebe.
Ein Tarifvertrag für die Assistenten gibt es nicht. Derzeit liegen die Stundenlöhne in den untersten Einstufungsgruppen für studentische Hilfskräfte bei 7,75 Euro brutto und für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bei 8,63. Die durchschnittliche Entlohnung beträgt laut ver.di knapp zehn Euro. Fast alle Arbeitsverträge sind »kapazitätsorientiert«, d.h. es gibt keine feste Stundenzahl und somit kein kalkulierbares regelmäßiges Einkommen. Für den ver.di-Vertrauensmann bei ambulante Dienste e.V., Klaus Drechsel, ist das unzumutbar. Schließlich handele es sich um eine »verantwortungsvolle und gesamtgesellschaftliche Aufgabe«, heißt es in dem Aufruf zur Kundgebung. Unter den geltenden Rahmenbedingungen werde die Tätigkeit der persönlichen Assistenz »per se abgewertet«, kritisiert auch der Betriebsrat der Firma. Und dies nicht nur, weil sie niedrig entlohnt, sondern weil sie zur »beliebig austauschbaren Hilfsarbeit degradiert« werde. Die bei der persönlichen Assistenz geforderten sozialen Kompetenzen – beispielsweise sich auf unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen bis hin zur Sterbebegleitung einlassen zu können – würden vollständig ausgeblendet. Solche Fähigkeiten seien bislang weder offiziell als Qualifikation anerkannt noch in Zeiteinheiten meßbar. Daher gelte persönliche Assistenz bis heute als unqualifizierte Handlangertätigkeit, mit der aber »ein stetig wachsender Teil der Leistungen im Gesundheitsbereich erbracht und sehr viel Geld im Vergleich zu den höheren Gehältern für examinierte Fachkräfte eingespart wird«.
Gewerkschaften und Betriebsrat fordern in den laufenden Verhandlungen einen Mindestlohn von 11,50 Euro pro Stunde für alle in der persönlichen Assistenz Beschäftigten. Betriebsrat Carsten Does weiß, daß das eine harte und schwierige Auseinandersetzung wird, die man keinesfalls auf Kosten der Klienten austragen wolle. Den Schlüssel für die Lösung hätten dabei nicht in erster Linie die anbietenden Unternehmen in der Hand, so Does am Mittwoch gegenüber jW. Denn diese könnten ihre Löhne nur auf Grundlage der vom Senat vorgegebenen Vergütungen festlegen. Dennoch sind Tarifverträge für den zuständigen ver.di-Sekretär Stefan Thyroke unverzichtbar. Lange habe man die persönlichen Assistenten vernachlässigt, räumte Thyroke am Mittwoch gegenüber jW ein. Doch mittlerweile habe man gewerkschaftliche Strukturen bei den großen Anbietern aufgebaut und hoffe, im Herbst eine Tarifkommission bilden und die Unternehmen zu Verhandlungen auffordern zu können.