Leben als Tätigkeit – Arbeit als Zwang
Es gibt ein weit verbreitetes Mißverständnis. Leben sei Arbeit. Das ist das Mißverständnis von Leuten, die jede Hoffnung auf ein besseres Leben verloren haben. Leben ist Tätigkeit, Leben könnte freie und bewußte Tätigkeit sein.
Arbeit ist Zwang – Arbeit ist die Tätigkeit, die man verrichten muß, um das Überleben zu sichern. „Not, Elend, Plage, Last“. „Arbeit“ und „Armut“ gehen auf den gleichen Wortstamm zurück. Im Mittelalter schien sie „gottgegeben“; heute erscheint sie als „ewige Naturnotwendigkeit“.
An der Frage, wer arbeiten muß und wer nicht, entscheidet sich jegliches Herrschaftsverhältnis. Die herrschenden Klassen sind diejenigen, die die anderen zur Arbeit zwingen können ─ und vor allem dazu, für sie mitzuarbeiten. Mehrarbeit zu leisten und das Ergebnis dieser Mehrarbeit abzugeben.
Die Verfügung der Einen über die Arbeitskraft der Anderen führt zur arbeitsteiligen Arbeit. Arbeit war und ist Voraussetzung der Entstehung und Entwicklung menschlicher Gesellschaft. Produktion ist die Grundbedingung aller Geschichte. Die konkrete Arbeit ist die besondere Lebensweise der Menschen.
In diesem Sinn ist die Arbeit die Selbstverwirklichung des Individuums. Das ist kein abstrakter, sondern ein konkreter, bestimmter, besonderer Vorgang. Sklavenarbeit ist die Selbstverwirklichung des Sklaven, der Lohnarbeiter verwirklicht sich in der Fabrik.
Arbeit ist deshalb entfremdete (und entfremdende) Tätigkeit. Sie findet nicht unter dem eigenen Kommando des Arbeiters statt und die Produkte seiner Arbeit fördern nicht ihn selber, sondern treten ihm fremd und ─ wie Marx das ausgedrückt hat ─ als „selbständige Macht“ feindlich gegenüber. Diese „selbständige Macht“ ist das Privateigentum ─ die Produkte der Arbeit gehören jemand Anderem. Arbeit und Privateigentum gehören zusammen.
Arbeit im Kapitalismus
Arbeiter in vorkapitalistischen Zeiten arbeiteten, um bestimmte nützliche Sachen herzustellen. Der Gebrauchswert ihres Produktes war für sie selber und für ihre Herren entscheidend. Auch der Austausch von Produkten erfolgte im wesentlichen auf der Grundlage ihres Gebrauchswertes. Der Lohnarbeiter dagegen arbeitet für Geld, der Kapitalist läßt ihn arbeiten wegen des Profits. Es geht beiden nicht um eine bestimmte Arbeit mit einem bestimmten Produkt, sondern um das, was man dafür bekommt. Die Produktion von Tauschwert steht im Mittelpunkt.
Alle Arbeiter vorher waren in offen daliegenden Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen an ihre ganz bestimmte Arbeit gebunden. Der Sklave war Sklave seines Herrn, der mittelalterliche Bauer produzierte auf seinem Land und gab einen (ihm ganz genau bekannten) Teil des Produktes seinem Herrn.
Der moderne Lohnarbeiter dagegen ist im doppelten Sinne frei. Er ist nicht an eine bestimmte Arbeit gebunden, noch an einen bestimmten Herrn. Damit ist er auch „frei“ von den entscheidenden Produktionsmitteln.
Damit bekommt eigentlich erst im Kapitalismus der Begriff „Arbeit“ einen Sinn. In allen vorkapitalistischen Verhältnissen verstand der Mensch unter Arbeit immer eine ganz konkret bestimmte Tätigkeit. Erst der Lohnarbeiter kann von „Arbeit“ im Allgemeinen, von Arbeit ohne nähere Bestimmung (außer der des Geldverdienens) sprechen.
Weil aber nicht mehr das „täglich Brot“, sondern Geld das Ziel der Arbeit ist und in jedem Pfennig ein Teil des allgemeinen Reichtums steckt, hat sie jetzt einen Antrieb, der niemals befriedigt werden kann. Deshalb wollen nicht nur die Kapitalisten möglichst viel gearbeitet haben, auch die „Arbeitsamkeit des Individuums“ hat „keine Grenzen“ (Marx) mehr. Geld hat keiner je genug. Die Jagd nach Profit und die Arbeitsamkeit der Arbeiter machen das Kapital immer mächtiger, zwingen alle Kulturen und Menschen unter das Kapitalverhältnis, unter das umfassende Kommando der Fabrik und verändern dabei fortwährend die Gesellschaft, also den Grad und die Weise, wie die Menschheit miteinander umgeht. Sie schaffen zugleich immer wieder Arbeit ab und erzeugen immer mehr Arbeit, indem die Instrumente der Arbeit vervollkommnet und entgegenstehende Schranken überwunden werden.
Der Arbeiter als Teil des Kapitals ist Teil der Arbeiterklasse, die als solche ganz andere Methoden hat, an den „allgemeinen Reichtum“ zu kommen, als der einzelne Arbeiter. Sie entwickelt Ansprüche, Arbeitszurückhaltung, Wünsche, Bedürfnisse, Standards ─ aber es geht (oder ging bisher!) auch dabei letztlich um eben diesen „allgemeinen Reichtum“, oder besser, um einen möglichst großen Anteil daran bei möglichst geringem Aufwand.
Der Klassenkampf setzt deshalb die Bedingungen der „Arbeitsamkeit“ der Arbeiterindividuen und entwickelt diese Bedingungen.
Entwickelt wird dabei die Arbeit. Arbeit, für die niemand Verantwortung übernimmt, deren Zweck und Folgen niemand interessieren. Wir alle sehen, wie diese Welt durch die Tretmühle getrieben wird. Die Arbeit ist zur Tätigkeit der Zerstörung geworden.
Arbeit ist nicht nur Lohnarbeit
Viele Arbeit ist unentlohnt. Bei uns ist der größte Teil davon die Arbeit der Hausfrauen. Sie werden praktisch über den männlichen Arbeiter mitbezahlt. Das ist einer der „Nachkriegsdeals“: Die Männer kriegen genug Geld, um sich eine Angestellte leisten zu können, dafür leisten sie aber zuverlässig ihre Lohnarbeit.
Arbeit ist Ausbeutung
Um sich die Mittel zum Leben zu beschaffen, muß man Geld verdienen. Die meisten sind so gezwungen zu arbeiten, d.h. da sie nichts anderes besitzen als ihre Arbeitskraft, müssen sie halt die verkaufen.
Damit die Arbeitskraft auch in ausreichendem Maße in Arbeit verwandelt wird, hat das Kapital eine ganze Reihe von Instrumenten: kleine und große Chefs, Gesetze, Psychologen, Akkordsätze. Und für die, die sich verweigern Sozialamt und Knast ─ auch wieder Zwang zur Arbeit.
Die Ausbeutung (diejenigen, die allen Wert produzieren, bekommen nur so viel, wie sie und ihre Familie zum Leben brauchen) ist nicht offensichtlich. Es scheint nämlich so, als werde man für die Arbeit bezahlt.
Jede Trennung zwischen „notwendiger“ (notwendig für die Reproduktion der Arbeitenden unter gegebenen Verhältnissen) Arbeit und Mehrarbeit ist verwischt. Für das Kapital ist alle Arbeit notwendig und es zieht aus jeder Arbeit, direkt oder indirekt, Mehrwert, den es zum Existieren braucht.
Arbeit ist Kapital
Das Kapital begegnet uns im Alltag als Produktionsmittel: Fabrikhallen, Maschinen, Computer… Sie scheinen ganz die Arbeit von gestern zu sein. Aber wenn sie nicht mit der Arbeit von heute zusammenkommen, wenn in und an ihnen nicht gearbeitet wird, dann reduzieren sie sich sehr schnell auf ihr wirkliches Dasein: Steine, Plastik, Schrott. Man muß eine Maschine nicht kaputtschlagen, um sie als Kapital zu entwerten. Eine Drehbank, an der nicht gearbeitet wird, ist nur noch ein paar hundert Kilo vor sich hin rostender Stahl. Kapital, das sind nicht Dinge, auch nicht Geld, das sind die Verhältnisse, die die Menschen dazu bringen, Kapital zu produzieren. Deshalb ist jeder Kampf gegen die Arbeit Kampf gegen das Kapital.
Klassenkampf geht immer gegen die Arbeit
Die Sehnsucht der Arbeiter nach Leben ist zwar zurückgedrängt, aber bricht doch immer wieder aus. Schwätzchen halten mit den Kolleginnen, Pausen überziehen, krankfeiern, bummeln, streiken. Dann weigert sich die Arbeitskraft, Arbeit zu werden. Das ist Klassenkampf. Die Weigerung der Frauen, länger Hausarbeit kostenlos zu verrichten, der Kampf nichtindustrieller Gesellschaften dagegen, „zivilisiert“ zu werden, das Abhauen der Jugendlichen aus den Fabriken ─ all das ist Verweigerung der Arbeit. Doch ist es dem Kapital bisher gelungen, all diese Kämpfe einzufangen, sie für die eigene Entwicklung zu benutzen.
Die Arbeit abschaffen!
Mit sehr wenigen Ausnahmen ist die Arbeiterbewegung immer als Vertreter der „Arbeit gegen das Kapital“ aufgetreten. So als müßte man nur die Kapitalisten und ihre Institutionen abschaffen, um ins Reich der Freiheit zu kommen. Die, die sich der Fabrikarbeit entzogen, wurden als Lumpenproletarier beschimpft.
Die Losung war die Befreiung der Arbeit vom kapitalistischen Chaos. „Abschaffung der Lohnarbeit“ bedeutet nur den Lohn abzuschaffen (das einzig Gute an der ganzen Sache) und die Arbeit beizubehalten.
Aber die Menschen sind im Recht, wenn ihnen die Arbeit widerwärtig ist. Es gibt keine Würde der Arbeit. Arbeit ist unendliches Unglück, grenzenlose Schande. Eine freie Gesellschaft kann nur eine Gesellschaft ohne Arbeit sein.
„Wer backt denn dann die Brötchen?“
Die Frage nach den Brötchen ist lediglich eine andere Version von „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Und das ist eine Lüge. Zu allen Zeiten haben die Nichtarbeitenden mehr und besser gegessen als die Arbeitenden. Träume, Utopien, Vorstellungen von einer besseren Welt ohne Unterdrückung hat es schon immer gegeben.
Paul Lafargue schreibt 1883 im „Recht auf Faulheit“: „Wenn die Arbeiterklasse sich das Laster, welches sie beherrscht und ihre Natur herabwürdigt, gründlich aus dem Kopf schlagen und sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird, nicht um die ‚Menschenrechte‘ zu verlangen, die nur die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung sind, nicht um das ‚Recht auf Arbeit‘ zu fordern, das nur das Recht auf Elend ist, sondern um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, dann wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Inneren eine neue Welt sich regen…“