Als die Familienhelferin Karin Beutler einen Betriebsrat gründen wollte, wurde sie entlassen
Zur Gründung eines Betriebsrates trifft sich die Belegschaft einer Firma für Familien- und Jugendhilfe in der Wohnung einer Sozialarbeiterin. Zwei Tage später steht die Frau aus Essen auf der Straße.
Geknickt sitzt die blonde Frau mit Kurzhaarschnitt am Küchentisch. Draußen ist der Winter ausgebrochen. Eisiger Ostwind hat Regen und Wolken vertrieben. Als könnte Tabak neue Kraftreserven freisetzen, zieht die Mittfünfzigerin an ihrer Zigarette. Durch das Fenster wandert der Blick über den Waldhang gegenüber. Wenige Schritte bergab fließt die Ruhr. Nebelschwaden hüllen das kleine Tal im Essener Süden in fröstelndes Grau. »So kurz vor Weihnachten«, sagt Karin Beutler, »war das schon eine bittere Überraschung.« Die Überraschung, damit meint sie die Kündigung durch ihren Arbeitgeber Stellwerk GmbH, eine der Handvoll Firmen der Essener Sozialbranche, die mit Aufträgen vom Jugendamt ihr Geld verdienen. Seit Anfang des Jahres ist Karin Beutler arbeitslos.
Festanstellung – wie ein Lottogewinn
Die gebürtige Thüringerin ist Sozialarbeiterin, und zu tun gäbe es mehr als genug. Die alte Kohlestadt Essen ist heute eines der Armenhäuser der Republik. Jedes dritte Kind im Ruhrgebiet über drei Jahre ist arm. Mitten im Herzen von Nordrhein Westfalen sind nur die Kinder der Nachbarstadt Gelsenkirchen noch schlechter dran. Mit gekürzten Sozialbudgets und Personal-Outsourcing an Privatfirmen versucht der Staat, die Risse im sozialen Kitt notdürftig zu verspachteln. Für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, so will es das Grundgesetz, müssen Gesetze und Behörden wirken.
Schon die alten Griechen wussten: Gewinnen Armut und Not die Überhand, dann drohen Aufstände und Unruhen. Auch Essens bekanntester Sohn, der Kanonenbaron Alfried Krupp, folgte dieser Einsicht. Weil um 1900 das Massenelend explosiv wurde, setzte er auf saubere Angestelltenwohnungen, gründete Schulen und Krankenhäuser. Gewerkschaften und Sozialisten hatte der neue Stadtheilige damit die Kohle von der Schippe genommen.
Ihr halbes Leben schon ist Karin Beutler im Auftrag des Sozialstaats unterwegs. Als Einzelfall-Helferin geht sie zu jenen Familien, die in der Sprache des Jugendamts »erzieherischer Hilfe« bedürfen. »Wir Sozialarbeiter bekommen viel Elend zu sehen, es geht um Hilfestellung im Alltag. Ursachen für Armut sind meistens nicht selbst verschuldet«, weiß Beutler. »Aus der Welt können wir die Ungerechtigkeit nicht schaffen. Wir stopfen Löcher, geben Kraft.«
Bis vor Kurzem war zumindest ihre Welt noch in den Fugen. Jeden Morgen war sie – zu überforderten Müttern aus Mali, frisch Geschiedenen aus Polen, Großeltern in Bottrop, die sich um die Enkel kümmern, gegangen. »Schlecht war die Bezahlung nicht«, das wolle sie klarstellen. Auch das Arbeitsklima habe im Großen und Ganzen gestimmt. Kollegen und »Klientel«, so der Fachjargon für das Heer der Hartz-IV-Betroffenen, mochten ihre offene Art, eine Mischung aus Lebenserfahrung und Professionalität, erzählt eine Sachbearbeiterin aus einem der örtlichen Jugendämter.
»Hier arbeite ich bis zur Rente«, dachte die heute 56-jährige Karin Beutler, als ihr die Geschäftsführung Ende 2010 endlich, nach über einem Jahr als »freie Honorarkraft«, einen unbefristeten Arbeitsvertrag anbot. Man war mit ihr zufrieden. Davor hatte sie jahrelang nur Verträge auf Zeit erhalten, in Schulen oder für die Kirche. »Für Sozialarbeiter«, erklärt Beutler, »ist eine Festanstellung so was wie Lottogewinn…
Ein Hauch von Illegalität
Doch dann die Kündigung. »Wir wollten einen Betriebsrat gründen, und darum wurde ich gefeuert«, da ist sich das Mitglied in der Gewerkschaft Erziehung und Bildung sicher. Bei ihr zu Hause hatten sich die Festangestellten zweimal getroffen. »Ich habe einfach die größte Wohnung«, sagt sie und nimmt einen kräftigen Schluck aus ihrer Bollhagen-Tasse. Die Stimmung war »irgendwie konspirativ, als wäre es verboten, eine Arbeitervertretung zu gründen.« Besonders den jungen Kollegen sei das Treffen »unanständig vorgekommen«, erinnert sie sich. Arbeitnehmerrechte, Betriebsrat, Forderungen an die Geschäftsführung, »das hatte den Hauch des Illegalen«.
Wie in aufgeregten Küchengesprächen zu Wendezeiten sei über Für und Wider gestritten worden. Warum sich zusammentun, man habe doch eine ordentlich bezahlte Stelle. Ein Betriebsrat, ist das nicht politisch, Misstrauen gegenüber den Chefs?
Diese Fragen hätten unausgesprochen im Raum gestanden. Schließlich war man sich doch einig: Der Betriebsrat muss her! Zu unklar waren Betriebsinterna, Arbeitszeit, Abrechnungsformalitäten.
Nur eine Kollegin schoss auffällig quer, schickte einen Brandbrief über den Mailverteiler, warnte vor der Betriebsrats-Gründung. Wer dafür sei, müsse sich in Zukunft warm anziehen. Kaum jemand wunderte sich – »die falsche Ratgeberin ist eine enge Freundin der Stellwerk-Chefs«, erinnert sich Karin Beutler.
48 Stunden später klingelte das Telefon. Ohne Angaben von Gründen wurde Beutler zur Geschäftsleitung beordert. »Aus heiterem Himmel wurden mir Verfehlungen vorgehalten: Zuspätkommen, berufliche Post von meiner Privat-Email«. Ihr sei ein Stift hingehalten worden, alles ging schnell, völlig überrumpelt unterschrieb sie ein Papier: die Kündigung. »Die zwei Firmen-Chefinnen haben mich auf die Straße gesetzt, eiskalt.« Mit bitterer Miene schaut Frau Beutler ins Leere. »Ohne mit der Wimper zu zucken haben die mich gefeuert«.
Karin Beutler wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. »Ich kenne doch meine Rechte«, sagt sie, die nach der Wende der Liebe wegen von Ostberlin in den Westen gegangen war, Sozialarbeit studierte und auf eine bessere Zukunft hoffte. Sie, die ihre Abschlussarbeit über Frauenrechte in der DDR schrieb, gehört zu der Sorte Mensch, die in der Straßenbahn laut über Politik und Missstände dozieren. In ihrem Bücherregal stehen Brecht neben Bibel, Marx neben Waldorf-Klassiker. Aus ihrem schmalen Mund kommen Sätze wie: »Der Arbeitnehmer, das bin nicht ich. Ich gebe meine Arbeit her, also bin ich der Arbeitgeber.«
Immer mehr Private, immer mehr Teilzeit
Karin Beutler nahm sich einen Anwalt und zog in der Überzeugung, Recht zu haben, vors Arbeitsgericht. Gegen Bevormundung anzukämpfen, auch wenn man damit aneckt, das kennt sie, schon aus DDR-Zeiten. Etwa, als sie demonstrativ der Demo am 1. Mai fernblieb. Heute aber, dachte die um ihre Arbeit Gebrachte, dürfte es ein Leichtes sein, die Richter zu überzeugen.
Doch neue Zeiten bringen neue Fallstricke. Ihre Rechnung machte Beutler ohne das Kündigungsschutzgesetz. Fast zeitgleich zur Teilprivatisierung der Sozialarbeit waren in den 90er Jahren Kündigungen vor allem in kleinen Unternehmen vereinfacht worden.
Die Auswirkungen des harten Konkurrenzkampfes in der Sozialbranche lassen sich auch bei der Stellwerk GmbH erkennen. Bei wachsenden Gewinnmargen stagniert die Zahl der Vollzeit-Arbeitnehmer unter zehn, der Rest der 30 Mitarbeiter arbeitet Teilzeit oder »frei«.
Kleinbetriebe in der Familien- und Jugendhilfe, in denen ohne Kündigungsgrund gefeuert wird, liegen voll im Trend. Immer mehr Sozialarbeiter arbeiten bei immer mehr privaten Trägern – immer öfter in Teilzeitjobs.
Allerdings formiert sich Widerstand gegen das Geldmachen mit der Not. Ein Forum für kritische Sozialarbeit hat sich gegründet; am 2. März will es in Berlin eine Mahnwache abhalten. Wie berechtigt der Protest ist, hat Karin Beutler selbst erlebt. »Wer nicht passt«, fasst sie ihre Erfahrungen mit der Kündigung und gescheiterten Güteterminen beim Arbeitsgericht zusammen und drückt ihre Zigarette aus, »wird schnell selber zum Sozialfall.«