Prekäre Assistenz?

Bei der Neuverhandlung der Entgelte für die persönliche Behindertenassistenz in Berlin sind die Beschäftigten mit ihren Interessen ausgeschlossen

In den nächsten Wochen wird der Leistungskomplex 32 (LK 32), in dem die Entgelte für die persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung in Berlin geregelt sind, zwischen den Pflegekassen und Senat als Kostenträger auf der einen Seite, den Geschäftsführungen der Anbieter auf der anderen Seite unter Ausschluss der betroffenen Beschäftigten neu verhandelt.

Das Modell der persönlichen Assistenz wurde Anfang der 1980er Jahre von behinderten Menschen im Rahmen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung als Alternative zur Unterbringung in Heim oder Familie durchgesetzt. Es bietet diesen die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen, der Bevormundung durch Heimpersonal oder Verwandte zu entgehen und ihr Leben mit Unterstützung von Assistentinnen bzw. Assistenten selber und menschenwürdig zu gestalten. Inzwischen gibt es allein in Berlin annähernd 200 sog. Assistenznehmerinnen bzw. –nehmer. Die ungefähr 1000 Beschäftigten, die für sie arbeiten, sind zum überwiegenden Teil bei drei großen Berliner Assistenzanbietern und nur in wenigen Fällen im Rahmen des persönlichen Budgets direkt bei den Betroffenen angestellt. Alle werden aus den Entgelten des LK 32 bezahlt.

Diese Entgelte wurden letztmalig am 1. Januar 2001 um 5,2% erhöht, dies aber nur für die erste bis achte Einsatzstunde (bei oftmals Einsätzen von bis zu 24 Stunden täglich). Von dieser in der Summe äußerst bescheidenen Steigerung kam bei den Beschäftigten nichts an, so dass sie seit mehr als zehn Jahren auf eine Einkommenserhöhung verzichten mussten. Angesichts der allgemeinen Preissteigerungen in den letzten zehn Jahren bedeutet das einen realen Einkommensverlust in Höhe von ca. 25%. Noch schlimmer hat es jedoch die Neueingestellten in der Assistenz getroffen: Während beispielsweise die Gehälter von dem zweitgrößten Anbieter Lebenswege für Menschen mit Behinderung gGmbH 2006 für Neubeschäftigte auf 8,75 € pro Stunde abgesenkt wurden, kürzte der größte Anbieter ambulante dienste e.V. 2008 die Gehälter sogar um fast 20% auf 7,60 € pro Stunde für studentische und 8,60 € für vollsozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Auch wenn ambulante dienste e.V. das Gehalt für Neubeschäftigte aufgrund eines seitens des Betriebsrats angestrengten Arbeitsgerichtsverfahrens 2009 wieder auf 7,75 € resp. 8,63 € pro Stunde anheben musste, ändert das wenig an der völlig unzureichenden Entlohnung, die nicht einmal Nachtarbeitszuschläge beinhaltet.

Es sind jedoch nicht nur die Reallohnverluste und Lohnkürzungen bei den Neubeschäftigten, welche es nahe legen, die Beschäftigungsverhältnisse in der persönlichen Behindertenassistenz als prekär zu bezeichnen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: ambulante dienste e.V. schließt beispielsweise generell bedarfsorientierte Arbeitsverträge ohne festgelegte monatliche Stundenzahl mit Assistentinnen und Assistenten ab, so dass es für diese letztendlich von Monat zu Monat ungewiss bleibt, ob sie die zur Deckung ihres Lebensunterhalts notwendigen Arbeitsstunden zugeteilt bekommen; und die im persönlichen Budget Beschäftigten haben im Gegensatz zu ihren Kolleginnen und Kollegen bei den großen Anbietern nicht einmal Interessensvertretungen, was angesichts der zahlreichen Konflikte, die in einer intime Lebensbereiche tangierenden Tätigkeit wie der persönlichen Assistenz auftauchen können, mehr als problematisch ist. Allgemeinen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen wie Gehaltskürzungen stehen sie insofern oftmals vereinzelt gegenüber, was ihre Verhandlungsposition deutlich schwächt.

Mit Einkommensverlusten sind aber nicht nur die Beschäftigten in der persönlichen Assistenz konfrontiert. Der gesamte Gesundheits- und Sozialbereich ist seit Jahren von massiven Kürzungen betroffen. Von einschneidender Wirkung waren zum einen die, im Rahmen des 2005 in Kraft getretenen TVöD zugestandenen Kürzungen gegenüber dem vorher für die Branche maßgeblichen BAT; zum anderen übte der zunehmende Konkurrenzkampf zwischen den Anbietern Druck auf die Gehälter der Angestellten aus. Diese Entwicklung wurde und wird von der Mehrheit der politischen Entscheidungsträger forciert, indem sie den Gesundheits- und Sozialbereich weitgehend den Gesetzen des Marktes und dem damit verbundenen Preiskampf ausgesetzt haben. Das neoliberale Ideal der Kostensenkung qua Wettbewerb war und ist ihnen wichtiger als die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und die Qualität der Arbeit.

Der mit diesem Ideal implizierte Paradigmenwechsel hat auch im Pflegebereich dazu geführt, dass alle Aspekte primär unter dem Gesichtspunkt der Rentabilität betrachtet werden. Egal ob es sich um die Körperpflege, die Ernährung, die Mobilität oder die Abendgestaltung handelt, seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 werden immer mehr Tätigkeiten in standardisierte Module zerlegt und auf die als notwendig deklarierten Schritte reduziert, damit die Arbeit stärker verdichtet und auf diese Weise Kosten eingespart werden können.

Damit einhergehend soll die Pflegetätigkeit immer umfangreicher dokumentiert werden, um kontrollieren zu können, ob die geforderte Effektivität auch erreicht wurde bzw. noch gesteigert werden kann. Sowohl die Intimsphäre als auch die individuellen Wünsche und die Menschenwürde der auf Unterstützung Angewiesenen treten dabei in den Hintergrund. Diese Entwicklung droht die in den achtziger Jahren erkämpften Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung vollständig zu konterkarieren.

Unter solchen Rahmenbedingungen wird die Tätigkeit der persönlichen Assistenz per se abgewertet. Nicht nur weil sie niedriger entlohnt wird, sondern auch, weil sie zur beliebig austauschbaren Hilfsarbeit degradiert wird. Die bei der persönlichen Assistenz geforderten psychosozialen Kompetenzen – beispielsweise sich auf unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen bis hin zur Sterbebegleitung einlassen zu können – werden vollständig ausgeblendet. Solche Fähigkeiten sind weder offiziell als Qualifikation anerkannt noch in Zeiteinheiten messbar und existieren dementsprechend auch nicht für diejenigen, die die Kosten berechnen. Daher gilt persönliche Assistenz bis heute als unqualifizierte Handlangertätigkeit, mit der ein stetig wachsender Teil der Leistungen im Gesundheitsbereich erbracht und sehr viel Geld im Vergleich zu den höheren Gehältern für examinierte Fachkräfte eingespart wird.

Vor diesem Hintergrund haben sich Beschäftigte von mehreren Assistenzbetrieben bundesweit zur Unabhängigen Arbeitnehmervertretungen in der persönlichen Assistenz (UAPA) zusammengeschlossen und im letzten Jahr einen Scheiss-Streik organisiert, der auf die geschilderten Probleme aufmerksam machen sollte.

Relikte dieser öffentlichkeitswirksamen Aktion werden mit anderen künstlerischen Arbeiten, die Care Working und Assistenz kritisch beleuchten, in der Ausstellung Jenseits des Helfersyndroms II gezeigt, die am 30.09.2010 im Vorfeld der Neuverhandlung des LK 32 eröffnet wird.

Wir werden uns bei den anstehenden Verhandlungen nicht mit dem seit Anfang August diesen Jahres geltenden Mindestlohn für die Pflege in Höhe von 8,50 € begnügen. Damit würden wir den Gehaltskürzungen der letzten Jahre nur nachträglich zustimmen.

Wir fordern stattdessen – auch in Anlehnung an die Tariflöhne für Pflegehelfer – einen Lohn in Höhe von mindestens 11,50 € für alle in der persönlichen Assistenz Beschäftigten in Berlin. Dies auch, um ein zukünftiges Lohndumping zwischen den Betrieben von vornherein zu verhindern. Das ist für uns das Minimum, um wenigstens einen kleinen Teil der Einkommensverluste der letzten Jahre auszugleichen. Darüber hinaus fordern wir eine formale Anerkennung unserer Tätigkeit als Assistentinnen und Assistenten sowie die Respektierung des Rechts der Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer auf ein selbstbestimmtes Leben.

Da wir als Beschäftigte bisher nicht zu den Vergütungsverhandlungen eingeladen wurden, haben wir alle Beteiligten zu einer öffentlichen Podiumsveranstaltung am 30.09.2010 im Familiengarten in der Oranienstraße 34 in 10999 Berlin eingeladen, um unsere Interessen vorzubringen und unseren Platz am Verhandlungstisch einzufordern.

Betriebsrat ambulante dienste e.V. im September 2010

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Dieser Text ist als pdf-Datei auch auf www.labournet.de zu finden:

Prekäre Assistenz

Dort auch zum weiterlesen u.a. zur Podiumsdiskussion am 30.09.2010 und zum Scheißstreik im Frühjahr 2009:

Pflegedienste auf Labournet

Oder als Word-Dokument auf der Seite „Jenseits-des-Helfersyndroms“:

Hintergrundinformationen

Auch dort zum weiterlesen:

Jenseits-des-Helfersyndroms

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