Leben als Assistenzprozess

Ausfall – Zur Genese eines Begriffs in Theorie und Praxis

1) Momentaufnahme

Auf dem Anrufbeantworter 13:28 Uhr: „Hallo, hier ist die Floria aus dem gelben Beratungsbüro. Ich möchte dir mitteilen, dass Thorsten seit gestern im Krankenhaus ist. Du hast doch morgen die Tagschicht von 9:00-17:00 Uhr, und ich wollte dir mitteilen, dass du im Ausfall bist. Ruf doch mal zurück.

Rückruf 14:41 Uhr: „Ja hallo, hier Klaus, du hast angerufen wegen dem Einsatz bei Thorsten“ „Ja, da verbinde ich dich mal mit Simone, die kümmert sich und weiß da Bescheid“ – Warteschleife – „Hier Simone

Ja, hier Klaus, ich hatte einen Anruf von euch wegen dem Einsatz Thorsten“….Simone: „Ja, wer bist du?“ Klaus: „Klaus, Vertretung bei….“ Simone: „Also, du bist im Ausfall. Das heißt, dass du dich für andere Einsätze…“ Klaus: „Ich kenne die Regelung“ Simone: „Wir würden dich anrufen, wenn wir was für dich haben, wir haben das auch so an die anderen Beratungsbüros weitergegeben, du kannst aber auch sagen, dass du nicht in den Ausfall willst, dann würden wir…“ Klaus: „Ich sagte doch schon, ich kenne die Regel, aber was ist eigentlich mit Thorsten?“ Simone: „Der ist im Krankenhaus, wir wissen noch nicht…der Erik war heute kurz dort, heute Abend geht der Daniel, der die Nachtschicht…, ansonsten sind alle über das Wochenende im Ausfall…

E-Mail aus dem grünen Beratungsbüro: „Holger will Dich nicht mehr, er fühlt sich mit dir nicht wohl und kann es nicht richtig erklären. Jedenfalls würde ich Dich aus dem Plan nehmen und hätte schon dieses Wochenende…Ansonsten packe ich Dich aufs Ausfallgeld…

Anruf Frank P. bei Einsatzbegleitung Karin G., Beratungsbüro Rot: „Ich hab gerade den März-Schichtplan durchgeschaut, den du gestern geschickt hast, und ich hab mich gewundert, warum ich am Freitag, den 14. nicht drinstehe…“ Karin: „Wart mal, ich schau gerade mal nach…“ – Warteschleife – „nee, da ist die Claudia drin“ Frank: „Ich weiß, aber auf dem AT hatte ich die Schicht übernommen, so habe ich es mir jedenfalls eingetragen…“ Karin: „War das so? Weiß ich nicht mehr so genau, jedenfalls ist da die Claudia drin, der Sepp wollte da auch zu seinen Schwiegereltern und würde da gerne die Claudia mitnehmen…“ – Stille – Frank P: „Ja, okay, aber…“ EB Karin G.: „Ich kann dich da natürlich auch ins Ausfallgeld…

Mail aus dem Beratungsbüro Blau: „Da du gerade im Urlaub bist, schönen Urlaub übrigens noch, muss ich dir leider mitteilen, dass Franziska letzte Woche verstorben ist. Melde dich doch mal bei uns wegen deiner Ausfallzeiten, wenn du wieder zurück bist. Für den August habe ich erst mal deine Schichten als Ausfall an die anderen Büros weiter geleitet.

Beratungsbüro Grau: „Lieber Mathias N., wir möchten Dir hiermit mitteilen, dass sich Oskar F. gegen dich entschieden hat. Es besteht für den Rest des Monats September die Möglichkeit, einen Ausfallplan zu erstellen. Ruf doch bitte umgehend an, ob du im Einsatz F. für Vertretungsschichten zur Verfügung stehen würdest. Wie bereits besprochen besteht ein eventueller Assistenzbedarf für den Einsatz K.G. ab Mitte Dezember. Mit freundlichen Grüßen…

2) Ausfall

..steht für ein Versagen eines Systems oder eines seiner Teile, in der Chemie für eine Fällung, für das Ausscheiden eines gelösten Stoffes aus einer Lösung; im Militärwesen für den Ausbruch aus einer Belagerung oder die Gesamtheit der personellen Verluste. In der betrieblichen Praxis für den temporären und/oder dauerhaften Wandel ehemals verwertbarer und nützlicher Assistent_innen in nicht unmittelbar mehr gebrauchte und dementsprechend einsetz- und vernutzbare Assistent_innen. Das System will sich seiner überflüssigen Elemente kostengünstig bis kostenfrei entledigen.

Ursächlich für den Ausfall sind aber nicht die Umstände und der Willensentscheid der Arbeitskraft, also Dinge wie Krankheit, Urlaub der Arbeitnehmer_innen etc., sondern betriebliche Belange und Formen der Arbeitsorganisation. Beschäftigte sind insofern nicht Verursacher_innen von Arbeitsausfall, sondern dessen Leidtragende. Nochmals im Sinne des Begriffs: Nicht die Arbeitskraft fällt aus, sondern der Arbeitsauftrag.

Das ist dem Arbeitsauftrag selbst nicht anzukreiden, aber einem Betrieb, der diese Ausfall-Risikoverwaltung komplett auf seine Beschäftigten abwälzt.

Arbeitgeber und Beschäftigte gehen ein Tauschverhältnis ein, Angebot und Annahme von Arbeit. Dies wird üblicherweise in Arbeitsverträgen konkretisiert, die die Umstände dieses Tauschverhältnisses näher bestimmen. Dazu gehört unter anderem auch eine Festlegung des monatlichen Arbeitsvolumens und eine entspreche Entlohnung.

Der Arbeitgeber aber behandelt uns wie Monatslöhner, die praktisch jeden Monat ihr Arbeitsvolumen wieder neu aushandeln müssen – über entschlossene Präsenz auf ATs, Bettelanrufe in den Büros, Bereitschaft zur Übernahme von kurzfristig vermittelten Vertretungsschichten etc.

Der Verweis auf stabile dauerhafte Arbeitsverhältnisse, auf Kolleg_innen, die dieses Problem nicht haben, ist eine Unverschämtheit, weil es einen vermeintlich glücklichen Umstand zur Regel macht. Die Regel selber gibt das nämlich nicht her. Und wie dauerhaft glücklich dieser Umstand ist, davon können etliche ein Lied singen, Abgesang….

3) Pflicht

Der Tritt auf das Gaspedal verursacht, dass das Fahrzeug beschleunigt

Gleichzeitig wird uns suggeriert, dass wir Beschäftigte seien, die in der Pflicht stehen: was entlohnt wird, muss auch abgearbeitet werden! Aber was wird verbindlich entlohnt? Was und wie sind die konkretisierten dauerhaften Arbeitsbedingungen, was den Umfang, die zeitliche und räumliche Lage und Ausgestaltung der Arbeit betrifft?

Oder besteht unsere Verpflichtung in der Emphase, sich für jedes Opfer zur Verfügung zu stellen? Sich schuldig zu fühlen, weil wir bezahlt werden, auch wenn die betriebliche Arbeitsorganisation nicht funktioniert? Folgt man dieser abstrusen Logik, sind wir eben doch wieder diejenigen, die den Ausfall produzieren, weil wir nicht bereit sind, auf vereinbarte Arbeitszeit zu verzichten.

Wir wurden nun damit konfrontiert, dass uns die Leitung unterstellt, bezahlte Freizeit während der Arbeitszeit vergütet zu bekommen – ambulante dienste e.V. ein kollektiver Freizeitpark?

Unsere Gegenleistung haben wir schon längst erbracht, indem wir uns unter Beachtung der konkreten Dienstplangestaltung und Einhaltung der arbeitsvertraglichen und gesetzlichen Regelungen zur Arbeit zur Verfügung gestellt haben. Kann das Arbeitsangebot aus betrieblichen Gründen nicht abgerufen werden, bleibt das Annahmeverzug des Arbeitgebers, auch wenn dieser ganz andere Möglichkeiten herbeisehnt und hineinprojiziert. Wenn er uns nun Pflichten auferlegen will, die arbeitsvertraglich nicht vereinbart sind und denen wir auch individuell nicht zugestimmt haben, setzt er sich schlich und einfach ins Unrecht.

4) Wirtschaftlichkeit

Ohne externen Marktpreisvergleich empfiehlt die Handreichung folgendes Vorgehen: Die Pflegesätze sind einrichtungsindividuell zu kalkulieren. Im ersten Schritt sind die retrospektiven Gestehungskosten auf ihre Plausibilität zu prüfen. Im zweiten Schritt muss die Pflegeeinrichtung darlegen können, dass die einzelnen Kalkulationskriterien angemessen sind. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist zu klären, ob die prospektiven Gestehungskosten vor dem Hintergrund der Besonderheiten der Einrichtungen anhand der Erfahrungswerte aus vorangegangenen Verhandlungen gerechtfertigt werden können.

Die Leitung erklärt in ihrem Schreiben vom 29.06.2012, dass sie durch den Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen und der Vergütungsvereinbarung mit dem Land Berlin zu einer wirtschaftlichen Betriebsführung verpflichtet sei. Dieses Argument produziert aber mehr Nebel als dass es in der Sache für Klarheit sorgen, geschweige denn eine stichhaltige Begründung für das eigene Handeln liefern würde.

Richtig ist, dass vor dem Hintergrund der sog. Maserati-Affäre seitens der Kostenträger genauer geschaut wird, wohin die Gelder bei den Trägern und Einrichtungen fließen. Das soll aber nicht verhindern, dass das Geld bei den Beschäftigten landet, ganz im Gegenteil. Verhindert werden soll, dass Gelder in den Organisations- und Leitungsstrukturen versacken.

Insofern wurde die Bereitschaft zur Erhöhung der Entgelte in den Vergütungsverhandlungen 2011 auch daran gekoppelt, dass diese Gelder transparent und nachvollziehbar bei den Beschäftigten landen.

Die Verhandlungsführer auf Seiten des Senats fanden zudem eine Steigerung der Personalkosten in „Tarifanalogie“ vor dem Hintergrund des BSG-Urteils unstrittig.

Sie erklärten aber auch, dass dies eine Entscheidung der Träger sei, die dafür auch das wirtschaftliche Risiko (refinanzierbare Kalkulation, Wettbewerb) tragen müssten. Oder wie es der damalige politische Staatsekretär ausdrückte: „Träger kommen und gehen…“

Wir argumentieren hier nicht für die reinigenden Kräfte des Marktes, ganz im Gegenteil. Der Betrieb hat alles Recht der Welt, sich seine Gestehungskosten vor dem Hintergrund seiner spezifischen Organisationsform und Besonderheiten refinanzieren zu lassen.

Wir Beschäftigte sind aber nicht bereit, mögliche Finanzierungslücken durch den Verzicht auf gesetzliche, tarifliche und arbeitsvertragliche Rechte und Vereinbarungen auszugleichen.

5) Fall-Out

Den Einsatz zu verlieren bedeutet den Verlust eines vertrauten Arbeitsumfelds, oft schmerzhaft, manchmal auch notwendig! Grundsätzlich steht der Betrieb in Verantwortung, sowohl ökonomisch als auch moralisch! Mails von Kolleg_innen:

Ich bitte euch tätig zu werden, damit dieser assistenznehmer bescheid bekommt, dass er dies unterlassen muss bei andern AssistentInnen. ich habe sofort den einsatz gekündigt. am mittwoch dieser woche, 10.9. ab 19.30 wurde ich angeschrien von claudio s., rotes Büro, und bestand dann darauf den bsd zu rufen, damit ich gehen kann, ich will sofort den dienst beenden, da er mich anbrüllt. er hat mir den zugang zur bsd nummer verweigert in der doku, ich durfte auch nicht ans telefon…

Hallo lieber Betriebsrat, ich habe eine Frage an Euch: wie berechnet sich das Ausfallgeld? Ich habe letzten Monat 72 Stunden gearbeitet, dazu kommen 2 Stunden Team-Treffen. Diese wurden auch bezahlt und stehen auf der Lohnabrechnung. Dazu kommt aber noch eine Schicht von 12 Stunden, für die ich auf der Ausfallgeldliste stand und wofür ich auch anrief, um nach Arbeit zu fragen. Nun wurden diese Stunden nicht vergütet. Warum nicht? Ich hoffe, Ihr könnt mir weiterhelfen. Danke im voraus!

Ich habe eine Frage zur Berechnung des Ausfallgeldes. Das Ausfallgeld errechnet sich ja bekanntermaßen nach dem Durchschnittsbruttolohn der vergangenen sechs Monate. Wird darin auch gezahltes Ausfallgeld berücksichtigt, oder zählt dies nicht?

Ich befürchte, beim Ausfallgeld übergangen worden zu sein. Am Freitag, den 12.2. war ich, wie der EB bekannt, bei der ASN Kunze im Einsatz. Ich hatte telefonisch hinterlassen, sie könne mich eintragen wie sie wolle, ich hätte noch keinerlei Schichten im März. Danach habe ich vom Kollegen gehört, ich sei nicht eingetragen. Danach hörte ich vom Bürodienst, ich solle mir keine Sorgen machen, bis heute habe das Zeit, und bis heute habe ich nichts gehört. Ich sende euch meine Mail an Sarah anbei mit der Bitte um Klärung und Unterstützung.

Bereits im Dez. ist mein fester Einsatz und damit meine Hauptverdienstmöglichkeit weggefallen. Bisher konnte mir noch kein neuer fester Einsatz vermittelt werden. Es gibt zwar mehrer Angebote, doch leider halten sich dort die ASN sehr bedeckt und alle Türen offen, so dass ich leider nichts festes einplanen kann. Mein Verdienst für Feb. betrug nur ca. 850€ netto, statt der normalen ca. 1200€ . Für die Monate März und April wird es wohl auch nicht besser aussehen. Mit diesem Verdienst mache ich eindeutig Schulden, und könnte eigentlich gleich zuhause bleiben und Hartz4 beantragen. Ich habe auch das Gefühl, dass diverse EBs dieses Problem nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit betrachten. Nur leider geht es langsam um meine Existenz, wenn ich jeden Monat Schulden mache… Was habe ich noch für Möglichkeiten, um der Sache etwas mehr Nachdruck zu verleihen? Denn die Worte aus den Büros “ Wir können nichts machen…es wird schon …gab es noch nie…“ reichen mir langsam nicht mehr…Eine Klage wäre sicher der letzte und unbequemste Weg, und für eine weitere Zusammenarbeit sicher nicht ganz förderlich…

Nun zu meinem Anliegen: anfangs wurde von der EB noch in Aussicht gestellt, dass falls die Schließanlage nicht zu Beginn des Vertragsverhältnisses mit´AD zur Verfügung stehen würde, evtl. Ausfallgeld gezahlt werden würde. Nach Rücksprache mit der GF wurde dies jedoch zurückgenommen, mit der Behauptung, hier käme die Ausfallgeldregelung nicht zum tragen. Nun ist es aber so, dass für diejenigen, welche Spätdienste übernommen haben, ein Ausfall von 9 Stunden pro Schicht anfällt, solange die Bedingungen für die volle Einsatzzeit nicht gegeben sind. In der Einsatzplanung ist aber erst einmal immer davon auszugehen, dass von 16-5 h gearbeitet wird, faktisch aber bis auf Widerruf von 16-20 h auszugehen ist. Das Problem ist hoffentlich deutlich geworden: Als Spätdienstler muss man sich den Zeitraum bis 5h freihalten und kann auch keine anderen Dienste übernehmen, wird aber nur für den Zeitraum bis 20 h eingesetzt. Hier werden offenbar Betriebsrisiken auf die Assistenten vorschoben.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Aus dem Betrieb, Betriebsrat, Rechtsinfos veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.