Teil eines theoretischen Kollektivs?

Ein E-Mail-Interview mit Veronika Merklein und Jürgen Dedinszky zu Arbeitsverhältnissen im Bereich der Persönlichen Assistenz.

Am Di, 14. Juni 2011 eröffnet in der Wiener Galerie der IG Bildende Kunst die Ausstellung „Jenseits des Helfersyndroms III“, die sich der gesellschaftlichen Anerkennung von Pflegeberufen und Assistenz für Personen mit Behinderungen widmet.

Entstanden ist das Ausstellungsprojekt im Rahmen des ersten deutschlandweiten „Scheiß-Streiks“, zu dem Beschäftigte des Berliner Trägervereins „ambulante dienste e.V.“ im September 2009 aufgerufen hatten (vgl. MALMOE #46). Der Streik ist bis heute eine der wenigen öffentlichkeitswirksamen Protestaktionen gegen Lohndumping und schlechte Arbeitsbedingungen im Pflegebereich.

MALMOE nimmt die Ausstellungseröffnung zum Anlass für ein E-Mail-Interview mit Veronika Merklein und Jürgen Dedinszky zu Arbeitsverhältnissen sowie zu möglichen Organisierungsansätzen und daraus resultierenden Veränderungsperspektiven im Bereich der Persönlichen Assistenz in Österreich.

Teil eines theoretischen Kollektivs?

MALMOE: Idee der Persönlichen Assistenz (PA) ist es, Personen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, indem die Assistent_innen die Tätigkeiten ausführen, die selbst entweder gar nicht oder nur schwer ausgeführt werden können. Hier werden Persönliche Assistent_innen zu Dienstleistungsgeber_innen und ihre Arbeitgeber_innen zugleich zu ihren Kund_innen. Welche Widersprüche müssen sich eures Erachtens aus einem so konzipierten Verhältnis ergeben?

Jürgen Dedinszky: Persönliche Assistent_innen als „Dienstleistungsgeber_innen“ im Sinne von Unternehmer_innen zu betrachten und die Arbeitgeber_innen als Kund_innen, verkehrt die Verhältnisse. Persönliche Assistent_innen, die direkt und nicht über einen Trägerverein angestellt sind, können eher als „Haushaltsgehilfen“ bezeichnet werden, auch angesichts der Abhängigkeitsverhältnisse und der fehlenden arbeits- und sozialrechtlichen Absicherung.

Veronika Merklein: Für mich wird dieser Widerspruch am deutlichsten in der Ambivalenz spürbar, mit der mein Arbeitgeber PA begreift. Einerseits wird die Assistenz unabdingbarer aufgrund der gesundheitlichen Verschlechterung seiner Ehefrau. Andererseits gibt es die verhärtete Meinung, dass der Job nur ein „Studentenjob“, also ein Job für Minderqualifzierte sei. Mit dieser Annahme einher geht aber zugleich die Angst, dass die Assistent_innen, sobald ein besserer, das heißt höher qualifizierter Job in Aussicht sei, kündigen.

Die PA verläuft oftmals als hochgradig individualisiertes Verhältnis. Welche strukturellen Verbesserungen sollte es eurer Meinung nach geben?

Jürgen Dedinszky: Ich kann mir ein längeres Arbeiten in diesem Bereich ohne regelmäßige Beratung und Reflexion mit Kollegen_innen sowie Supervision nicht vorstellen. Auch müssen Fortbildungen und Fachberatungen angeboten werden. Menschen mit Behinderungen, die sich PA einkaufen, sehen sich berechtigt als „Expert_innen“ in eigener Sache. Dies bemächtigt sie aber nicht, über die Bedürfnisse und Interessen ihrer Angestellten zu entscheiden. Es braucht also Strukturen, die über das individuelle Arbeitsverhältnis hinausreichen. Während in Vereinen etc. über Kollektivvertrag und Betriebsvereinbarung die notwendigen Strukturen geschaffen werden können, sind bei völlig individualisierten Verhältnissen nur auf Gesetzesebene entsprechende Sicherstellungen möglich.

Veronika, mit wem besprichst du dein Arbeitsverhältnis? Redest du mit deinen Kund_innen über Schwierigkeiten, die eventuell aufkommen? Welche Verhandlungspraxen habt ihr?

Veronika Merklein: Da meine Mutter selbst in der Pflege (Stomatherapie und Wundversorgung) arbeitet, kann ich auf ihren professionellen Rat zurückgreifen, vor allem was den medizinischen Bereich betrifft. Bei zwischenmenschlichen Fragen habe ich auch schon mit meiner Psychotherapeutin sowie Freund_innen gesprochen, je nach Fragestellung. Und ja, über Probleme habe ich bisher mit meinen Kund_innen gesprochen: Bei einem ging es darum, dass mit der Zeit Hebearbeiten zugenommen haben. Sie haben dann ein Kinästhetik-Seminar ausfindig gemacht und allen Assistent_innen eine einmalige Teilnahme als Arbeitszeit ausbezahlt. Von Verhandlungspraxen kann aber keine Rede sein.

Auch ungeschulte Personen können als Persönliche Assistent_innen arbeiten, solange die Kund_innen mit ihrer Arbeit zufrieden sind. Darüber wird jedoch eine strukturelle Dequalifizierung des Bereichs vorangetrieben. Würden hier Schulungen und Qualifizierungsmöglichkeiten für Assistent_innen Abhilfe schaffen?

Jürgen Dedinszky: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich als „unausgebildete Person“ nicht Dienste anbieten darf, solange „meine Kundschaft“ damit zufrieden ist. Alles, was über reine Hilfestellung hinausgeht (Reichen des Waschlappens), also wirkliche Pflege, Verabreichung von Medikamenten etc., ist gesetzlich ziemlich streng reglementiert. Aber es herrscht halt der klassisch österreichische Zustand, dass man Sachen festschreibt, um die eine Gruppe zu befriedigen und dann nicht so genau hinschaut, weil’s sonst nicht anders gehen würde. Die Frage ist, wer muss sich für mehr Schulungen und Qualifizierungsmöglichkeiten einsetzen? Wenn diese Aufgabe bei den atomisiert prekären Arbeitenden bleibt, steht uns ein langer Weg bevor. Und es ist zu befürchten, dass sich das Interesse an gut ausgebildeten Assistent_innen sowohl bei den Arbeitgeber_innen als auch der öffentlichen Hand in Grenzen hält, wenn bessere Ausbildung auch bessere Einkommensbedingungen bedeutet.

Veronika Merklein: Unbedingt sollte dieser Bereich mit Schulungen gefördert werden – und zwar mit Schulungen, die offiziell über die Geldgeber_innenstelle, z.B. den Fond Soziales Wien, abgerechnet werden dürfen. Meine Beobachtungen, was Stellungsausschreibungen betrifft, zeigen, dass größtenteils Hebearbeiten (z.B. Umsetzen) gefordert werden. Dies scheint ein normales Phänomen, obwohl Hebearbeiten laut meiner Mutter der Pflege zuzuordnen sind. Sie erfordern Fachkenntnisse. Ich denke, keiner ungelernten Kraft ist klar – so auch mir nicht –, wann Assistenzleistungen aufhören und Pflegeleistungen anfangen. Auch bedeutet die Umstellung auf Personen, die qualifiziert sind, Pflegeleistungen anzubieten, strukturelle Veränderungen. Professionelle Pflegekräfte haben oft nur ein kleines Zeitfenster, in denen sie bei den Klient_innen sind, und kosten viel mehr als eine ungelernte Kraft. Kurzum: Assistenzen werden solange ausgereizt, bis eine qualifizierte Pflegeleistung unumgänglich ist.

Nicht zuletzt aufgrund der knappen finanziellen Mittel wird ein Gutteil der Arbeit im Bereich der PA über freie Dienstverhältnisse abgewickelt. Welche Entwicklungen sind hier absehbar?

Jürgen Dedinszky: Es ist eher damit zu rechnen, dass die Prekarisierung im Sozialbereich voranschreiten wird, als dass die jetzt „atypisch“ Beschäftigten in arbeits- und sozialversicherungsrechtliche „Normalarbeitsverhältnisse“ überführt werden. Ich kann auch im „institutionalisierten“ Bereich vermehrt beobachten, dass „atypische“ und prekarisierte Arbeitsverhältnisse zunehmen. Das hängt auch mit der Förderpolitik der Öffentlichen Hand zusammen, die zunehmend befristete Einzelförderungen anstatt „Gesamtpakete“ bewilligt, was zu befristeten „Mini“-Anstellungen (fünf bis zehn Stunden/Woche) führt.

Jürgen, wie könnte deines Erachtens ein für fragmentierte Bereiche wie die PA adäquates Modell gewerkschaftlicher (Selbst-)Organisierung aussehen?

Jürgen Dedinszky: Das Angebot der traditionellen Gewerkschaften für Arbeitnehmer_innen, die nicht in traditionellen Betriebsstrukturen arbeiten, ist eher marginal (es gibt die Interessengemeinschaften bei der GPA-djp, z.B. work@social) und das Interesse der Gewerkschaften an diesen Arbeitskräften scheint gering zu sein. Es bleibt nur die Selbstorganisation bzw. der Beitritt zu Strukturen wie „LISA – Libertäre Initiative Sozial Arbeitender“. Das Problem ist, als Vereinzelte_r im atomisierten Zustand, vielleicht unter Verzweiflung, Not und Wut, zu erkennen, dass man Teil eines „theoretischen Kollektivs“ ist, das „nur“ aktiviert werden muss. Leider ist es auch so, dass Organisationen wie „LISA“ noch nicht genug öffentlich sichtbar sind.

Zu den Personen

Veronika Merklein arbeitet seit drei Jahren als direkt angestellte Persönliche Assistentin für ein Paar mit Multipler Sklerose, die als Krankheit mit dynamischem Verlauf im fortgeschrittenen Stadium das Leben eines Menschen behindert. Sie begrüßt die Flexibilität des Anstellungsverhältnisses, da es für ihr unregelmäßiges Künstlerinnen-Dasein vonnöten ist, musste jedoch erst lernen, menschliche und berufliche Ebenen im Arbeitsverhältnis zu differenzieren.

Jürgen Dedinszky arbeitet seit zwanzig Jahren in einem größeren Verein, in dem er geistig und mehrfach behinderte Menschen betreut. Seit zwölf Jahren ist er dort im Betriebsrat engagiert. Seit den 1980ern ist er zudem in der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung aktiv und war u.a. an der inzwischen aufgelösten „Syndikalistischen Initiative“ beteiligt. Er ist nun „Sympathisant“ der „LISA – Libertäre Initiative Sozial Arbeitender“, die Teil der „FAS – Föderation der ArbeiterInnen-Syndikate“ ist.

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